dimanche 16 décembre 2012

Der NSU-Skandal angesichts der deutschen Innensicherheitspolitik


Les trois membres de la cellule néo-nazie "NSU"
In November 2012 wurde vom Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) eröffnet. Diese neue Einrichtung soll das 2004 gegründete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) und das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus (GAR) eingliedern. Während das GTAZ nur den islamistischen Terrorismus bekämpft, wurde das GAR als Antwort auf die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gegründet[1]. Die drei Mitglieder des NSU (auch als „Zwickauer Zelle“ bezeichnet) haben mit ihren zehn rassistischen Totschlägen die sicherheitspolitischen Strukturen Deutschlands erschüttert. Von 2000 bis 2007 haben Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe acht Türken, einen Griechen und eine Polizistin getötet, ohne dass die Behörden eingegriffen haben. Durch den Rücktritt vom Direktor des Bundesamtes für Verfassungsschutz[2] Heinz Fromm ist deutlich geworden, dass der deutsche Inlandsnachrichtendienst Dokumente und Beweise vernichtet hat, die die von der Polizei NSU-Verhaftung erleichtert hätten[3]

Dieser Skandal soll aber nicht verbergen, dass die heutigen Strukturen der Sicherheitspolitik Deutschlands im Bereich Terrorismus sehr stark von den Terroranschlägen am 11. September 2001 geprägt sind. November 2001 hatte der Bundesinnenminister der Rot-Grün Koalition Otto Schily das erste Antiterrorpaket angekündigt. In diesem Rahmen wurden 3 Milliarden Mark zur Terroristenbekämpfung im Haushalt 2002 eingeräumt, damit die Flugsicherung, die Ausrüstung der Bundeswehr und die Sicherheitseinrichtungen verbessert werden könnten. Interessanter sind aber die zwei Gesetzänderungen, die gleichzeitig in Kraft gesetzt wurden[4]. Genauso wie in den USA mit dem „Patriot Act“ wurden die Freiheitsrechte wegen den Terrorismusrisiken in Deutschland gesetzlich eingeschränkt. Erstens wurde das „Religionsprivileg“ abgeschafft. Laut dem ehemaligen Vereinsrecht galten Religionsgemeinschaften nicht als Vereine im Sinne des ersten Abschnitts § 2 des Vereinsgesetzes[5] und konnten deswegen nicht durch dieses Gesetz verboten werden. Ab 2001 können dann Vereinigungen, die Religion als Deckmantel für extremistische Ziele missbrauchen, auch verboten werden. 2002 wurde das Vereinsgesetz zur Bekämpfung extremistischer Vereinigungen nochmal geändert, in dem Sinne, dass die Unterstützung gewalttätiger oder terroristischer Organisationen zum legitimen Grund eines Vereinsverbots geworden ist. Des Weiteren wurde das Strafgesetzbuch geändert, damit terroristische Aktivitäten im Ausland auf Initiative der Regierung strafrechtlich verfolgt werden können[6]. Vorher war die Voraussetzung für die Strafbarkeit, dass die terroristischen Vereinigungen im Bundesgebiet bestehen.

Le siège du "Bundesamt für Verfassungsschutz" à Cologne
Dann wurde im Januar 2002 ein Terrorismusbekämpfungsgesetz veröffentlicht. Dies stärkte unter anderem den Verfassungsschutz und griff das Trennungsgebot[7] zwischen Polizei und Nachrichtendienst an. Genau die gleiche Herausforderung stelle sich heute bezüglich des GETZ, so die Linke, die eine verfassungsrechtliche Klage gegen die Einrichtung prüfen will[8]. 2002 erhielt der Verfassungsschutz Auskunftsbefugnisse bei Post, Luftverkehrsgesellschaften und Telekom. Auch bekam er das Recht, Informationen bei Banken und Finanzunternehmen über Konten und Konteninhaber zu sammeln. Datensammlung ist allgemein in Deutschland ein sehr heikles Thema geworden. Durch die 2006 entstehende Antiterrordatei wurden Datenbanken von 38 verschiedenen deutschen Sicherheitsbehörden, die wegen des Trennungsgebots nicht zusammenarbeiteten, vernetzt. Die Polizei und die Geheimdienste haben dann einen offenen Zugriff auf Grunddaten (Religion, Waffenbesitz, Beruf, Reisen, Telefondaten, usw.) von Personen, auf die sich ein Verdacht auf geplante Attentate richtet. Die Opposition kritisierte, dass der Besuch einer vermutlichen terroristischen Website ein genügender Grund für die Datensammlung ist[9]. Außerdem fürchtete die Opposition (FDP, Grünen, Linke) um das Datenschutzprinzip, das der Entwicklung des Überwachungsstaats entgegenwirkt. Heute läuft immer noch der Streit um die Vorratsdatenspeicherung bezüglich der nach den Madrider Terroranschlägen entstehenden EU-Richtlinie, die 6-monatige Speicherung von Telefon- und Internetdaten vorschreibt[10]. Deutschland hat die Richtlinie zwar umgesetzt[11] aber die verschiedenen Parteien sind sich trotzdem nicht einig. Seit 2008 wird jede Telefon-, Handy- oder Email-Mitteilung 6 Monate zur Nutzung von der Polizei, den Nachrichtendiensten und der Staatsanwaltschaft gespeichert[12]. Peter Schaar, der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, hat sich 2000 für ein „Quick-Freeze-Modell“ ausgesprochen, bei dem die Daten von den Providern normalerweise nur 7 Tage gespeichert werden, aber bis einem Monat bei Anfangsverdacht[13]

Diese Verstärkung der Innensicherheitspolitik soll aber ihre Grenze finden an der Meinungsfreiheit und beim Rechtsstaat. Insbesondere ist noch sehr umstritten die Tatsache, dass die vage und unklare Definition des gesetzlichen Begriffs „Terrorismus“ dazu führt, dass ein Soziologe namens Andrej Holm ohne terroristische Absicht als ein vermutlicher Terrorist verhaftet wurde. Die einzige Grundlage der Verhaftung war die Ähnlichkeit zwischen seinen wissenschaftlichen Schriften und den Texten des antimilitaristischen Vereins „Militante Gruppe“, die beschuldigt wurde, versucht zu haben, drei Bundeswehrfahrzeuge in Brand zu setzen[14]. Eine solche Affäre sollte eine gesellschaftliche Debatte erwecken: was ist Terrorismus überhaupt? 

Q.H. 



[1]„Friedrich eröffnet Abwehrzentrum“, Kölner Stadtanzeiger, 15.11.2012.  
[2] Das ursprüngliche Ziel dieses Amtes ist die Überwachung der Gruppierungen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO) Deutschlands bedrohen. 
[3] „Reform des Verfassungsschutzes“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2012.  
[4] „Sicherheitspaket I: Mehr Geld und schärfere Gesetze“, Stuttgarter Nachrichten, 27.09.2001.  
[5]§§ 1 – 2 des Vereinsgesetzes.  
[6]§ 129 b des Strafgesetzbuches (StGB).  
[7] Diese Trennung hat eine besondere Wichtigkeit in Deutschland, wenn man bedenkt, dass eine solche Trennung zwischen der Gestapo und dem Reichssicherheitshauptamt an der Nazi-Zeit nicht existierte.
[8] „Neues Abwehrzentrum existiert gar nicht“, Telepolis, 20.11.2012.  
[9] Studzinsky Silke, « 19. Jusqu'où ira l'antiterrorisme en Allemagne ? », in Didier Bigo et al., Au nom du 11 septembre..., La Découverte « Cahiers libres », 2008, p. 246-259.  
[10] Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten.  
[11] Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG.
[12]Studzinsky Silke, op. cit. 
[13] „Vorratsdatenspeicherung: Schaar schlägt "Quick Freeze Plus" vor“, Heise Online, 12.11.2010.
[14] Studzinsky Silke, op. cit.

mercredi 5 décembre 2012

Das baden-württembergische Wahlsystem

Contribution de M. Sébastien Gunther, ami et étudiant à l'Institut d'études politiques de Strasbourg, ancien stagiaire au Consulat général de France à Stuttgart.

Das Land Baden-Württemberg liegt in Süd-West-Deutschland und wurde 1952 gegründet. Wie alle deutschen Bundesländer, hat Baden-Württemberg sein eigenes Wahlsystem für die Landtagswahlen. Manche Systeme sind mit dem Bundeswahlsystem vergleichbar, während andere sehr spezifisch sind. Bundesweit dauert die Wahlperiode normalerweise fünf Jahre für die Landtage: nur in den zwei Hansestädten Hamburg und Bremen dauert sie ein Jahr weniger (vier Jahre), weil die Abgeordneten gleichzeitig auch in den Stadträten sind.
In Baden-Württemberg muss man 18 Jahre alt sein, um wahlberechtigt zu sein (aktives Wahlrecht) und um sich als Kandidat zu bewerben (passives Wahlrecht). Diese Regeln gelten für ganz Deutschland, außer für Brandenburg und Bremen, wo man schon mit 16 wählen (aber nicht gewählt werden) darf. In Hessen ist die Landesverfassung ein bisschen konservativer: man bekommt das passive Wahlrecht erst mit 21 (aber man wählt schon ab 18 Jahren). 

Les armoiries (Wappen) du Bade-Wurtemberg

Jeder deutsche Staatsbürger, der seit drei Monaten in Baden-Württemberg wohnt, gehört zum Wahlkollegium: im Gegensatz zu den Kommunalwahlen, dürfen Ausländer (auch aus den EU-Mitgliedstaaten) nicht mitmachen. Für die letzte Wahl, waren mehr als 7,6 Millionen Bürger und Bürgerinnen wahlberechtigt, aber nur 5,1 Millionen haben einen Stimmzettel am 27. März 2011 in die Urne geworfen: die Wahlbeteiligung ist von weniger als 55% (2006) auf 67% (2011) gestiegen. Seit den 1970er Jahren, ist die Beteiligung immer geringer geworden: 1972 haben fast 80% der Wahlberechtigten an der Landtagswahl teilgenommen.
Der Süd-Westen war seit dem Krieg eine Hochburg der Christlichen Demokraten: nach der Landtagswahl von 2006 haben die CDU-Kandidaten in 69 aus 70 Wahlkreisen die Mehrheit bekommen. Seit den 1990er Jahren, bemerkt man jedoch, dass die Grünen in der Kommunalpolitik einen schrittweisen Aufschwung erleben, besonders in den Universitätsstädten Freiburg im Breisgau, Konstanz, Heidelberg, Tübingen und seit kurzem ebenfalls in Stuttgart. Auch der Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir stammt aus Baden-Württemberg.

Wie oben gesagt, ist Baden-Württemberg in 70 Wahlkreise geteilt. Davon sind 37 im Jahre 2009 neu aufgeteilt worden: laut SPD-Politikern ist das ein Manöver der CDU um ihre Hochburgen zu sichern. Jede Partei, die schon im Landtag ist, darf einen Bewerber und einen Ersatzbewerber pro Wahlkreis stellen. Die Einzelbewerber, die parteilos sind, brauchen die Unterstützung von mindestens 150 Wahlberechtigten. Vor der letzten Wahl gab es ungefähr fünfzig Einzelbewerber in ganz Baden-Württemberg (nicht ein einziger wurde gewählt), meistens handelt es sich dabei um engagierte Lokalpolitiker, die ihr Gesicht auf den Wahlplakaten sehen wollen.

Das Sitzverteilungsverfahren und der Verhältnisausgleich

Baden-Württemberg ist in 70 Wahlkreise eingeteilt, aber es gibt mindestens 120 Abgeordnete im Landtag (bis zu 155 im Jahre 1996). Wie das Bundestagswahlsystem, ist das Landtagswahlsystem zwitterhaft: manche Abgeordnete werden direkt in die Wahlkreise gewählt (Mehrheitswahl), während andere aus Listen stammen. Während die Listen in den 15 anderen Bundesländern bei den Parteien vor der Wahl aufgestellt werden, werden diese Listen in Baden-Württemberg mit den Namen der Bewerber nach der Wahl aufgestellt.
Der baden-württembergische Wahlberechtigte hat am Wahltag nur eine Stimme. Das ist eine Besonderheit in Deutschland: normalerweise haben die Wähler mindestens zwei Stimmen (5 in Bremen, 10 in Hamburg). Sie können für einen Kandidaten stimmen und eine andere Partei wählen. Danach werden Sitze nach den Zweitstimmen an die Parteien verteilt: wenn eine Partei n Sitze bekommt, werden die n ersten Bewerber ihrer Liste als Abgeordnete angegeben. In Baden-Württemberg gibt es weder Listen noch Zweitstimmen: alles findet am Wahlabend statt. 70 Direktmandate werden nach relativer Mehrheitswahl in Wahlkreise vergeben, aber zwischen 50 und 80 anderer Mandate können nur nach Vorausberechnung vergeben werden. 

Am Sonntagabend rechnet man die Ergebnisse jeder Partei landesweit aus (39% der Stimme für die CDU 24,1% für die Grünen 23,1% für die SPD 5,3% für die FDP)[1]. Die 120 ersten Sitze werden nach diesem Anteil zwischen den Parteien die mehr als 5% der Stimme bekommen („5%-Hürde“) verteilt: CDU: 51 Grüne: 32 SPD: 30 FDP: 7. Die Statistiker benutzen aber eine besondere mathematische Methode, um die kleineren Parteien zu begünstigen: das Divisorverfahren mit Standardrundung (oder „Sainte-Laguë“ Verfahren).

Baden-Württemberg ist in vier Regierungsbezirke (Verwaltungskreise in manchen Bundesländern) geteilt: Stuttgart (Nord-Ost), Karlsruhe (Nord-West), Freiburg-im-Breisgau (Süd-West) und Tübingen (Süd-Ost). Die Sitze jeder Partei werden zuerst zwischen den Regierungsbezirken verteilt (immer nach dem Sainte-Laguë Verfahren):

(Überhangmandate)
Stuttgart
Karlsruhe
Freiburg
Tübingen
Gesamt
CDU
19 (4)
12 (4)
10 (1)
10
51 (9)
Grüne
12
8
7
5
32
SPD
11
8
6
5
30
FDP
3
2
1
1
7

 Im Regierungsbezirk Karlsruhe, hat die CDU, die schon 16 Direktmandate erhält, 4 sogenannte Überhangmandate, das heißt 4 Sitze mehr, als die prozentuale Sitzverteilung (12). Die Grünen haben dort 2 Direktmandate bekommen, und die SPD eins: Das spielt aber in der Sitzverteilung keine Rolle. Um die CDU Überhangmandate aufzuwiegen, kann man Abgeordnete die direkt gewählt worden sind nicht schon abwählen… Die einzige Lösung ist die Anzahl der Abgeordnetensitze der anderen Parteien zu erhöhen. Nach einem Verhältnisausgleich bekommen im Regierungsbezirk Karlsruhe die Grünen ein Ausgleichsmandat und die SPD zwei Ausgleichsmandate. Das Sitzverteilungsverfahren wurde auch für die anderen Regierungsbezirke neu gemacht: die Grünen bekommen schließlich 36 Sitze, die SPD 35 Sitze und die FDP 7 Sitze. Um mit 60 CDU-Politikern nur 39% der Sitze zu haben, braucht man 135 Sitze im Plenarsaal anstatt 120.


Stuttgart
Karlsruhe
Freiburg
Tübingen
Gesamt
CDU
23
16
11
10
60
Grüne
14
9
8
5
36
SPD
14
10
6
5
35
FDP
3
2
1
1
7
Zu diesem Zeitpunkt weiß man, wie viele Sitze jede Partei bekommt und wie viele neue Sessel man kaufen muss, aber nicht welche Bewerber im Landtag sitzen werden.

Die Auswahl der Abgeordneten und die Kritiken

Nach der Wahl werden die Listen von den Behörden des Regierungsbezirks erstellt. Für jede Partei werden die Bewerber (die nicht direkt gewählt worden sind) aus den Wahlkreisen vom Regierungsbezirk nach fortschreitenden Stimmen zugeordnet. Zum Beispiel im Regierungsbezirk Karlsruhe werden die 7 ersten Grünen Bewerber der Liste (2 der 9 Sitze sind schon direkt gewählt worden), die 9 ersten SPD Bewerber und die 2 ersten FDP Bewerber als Zweitmandate gewählt.

Das heißt tatsächlich, dass gleichzeitig mehrere Bewerber innerhalb des gleichen Wahlkreises gewählt werden können. Nach der Wahl 2011 sind alle vier Kandidaten (CDU, Grüne, SPD und FDP) im Kreis Waiblingen gewählt worden. Die Grundursache dieser Sonderbarkeit ist die Bevölkerung des Kreises: selbst wenn der FDP-Politiker eine schlechtere Prozentangabe als in anderen Kreisen bekommen würde, wäre die Anzahl der Stimmen trotzdem höher. Das ist also die erste Kritik: die Wähler können sich gar nicht für ihren Abgeordnete entscheiden, wegen der Demografie oder der Wahlkreiseinteilung.
Ein anderer am Wahlsystem erhobener Vorwurf ist, dass die Verhältniswahl und der bezirksweise Ausgleich eine Quelle „negativer Stimmen“ sind. Anders gesagt, mit so einem System gibt es ein Risiko, dass eine Partei mehr Sitze im Landtag bekommt, obwohl sie weniger Stimmen bekommen hat. Während der Kampagne 2011 hat ein grüner Akademiker eine Studie veröffentlicht, die beweist, dass je nach Fall, die schwarz-gelbe Koalition die Mehrheit im Landtag erreichen könnte, selbst wenn sie eine Wahlniederlage kassieren würde[2].

Fazit: Vergleich mit den französischen Regionalwahlen

Obwohl Frankreich kein Bundesstaat ist, werden oft die französischen „Régions“ mit den Bundesländern verglichen, weil sie seit 1982 nicht nur Verwaltungsbezirke, sondern auch politische Gebietskörperschaften sind. Im Gegensatz zum betreffenden Wahlsystem, ist das Regionalwahlsystem prozentual: es gibt keinen Wahlkreis, nur Bewerberlisten die auf Ebene der Departements aufgestellt werden.

Um eine stabile Mehrheit aufzubauen, bekommt die Mehrheitspartei eine sogenannte „Mehrheitsprämie“, das heißt sie erhält schon 25% der Sitze vor der prozentualen Sitzverteilung. Am Ende des Verteilungsprozesses, besitzt sie gewöhnlicherweise die absolute Mehrheit im Regionalrat. Das baden-württembergische Wahlsystem führt im Gegenteil zu einer fast prozentualen Volksvertretung, mit dem Vorteil einen lokalen Auflagepunkt zu haben. Außerdem, kann das Wahlsystem verbessert und vereinfacht werden, weil das Volksverständnis in einem Rechtsstaat sehr wichtig ist.

S.G.



[1] Ergebnisse vom 27. März 2011: http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Wahlen/Landtagswahl_2011/
[2]http://www.bawue.gruene-fraktion.de/cms/default/dokbin/375/375277.ueberhangmandate_und_ausgleichsmandate_b.pdf

Familienpolitik in Deutschland

Am Freitag, den 9. November 2012 stimmten 310 der insgesamt 330 Abgeordneten von Union und FDP für die Einführung eines umstrittenen Gesetzes: das Betreuungsgeld. Diese Leistung soll ab 1. August 2013 Eltern zukommen, die ihr Kind im Alter zwischen eins und drei Jahren nicht in die Kita schicken. Das Betreuungsgeld wird zunächst 100 Euro und dann ab 2014 150 Euro betragen. Insgesamt wird die Maßnahme 1,2 Milliarden Euro kosten[1]

Diese Entscheidung hat die deutschen Parteien in zwei Lager gespaltet. Einerseits verkündet die Koalition die Wahlfreiheit von Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder zu gewährleisten. Dagegen warnt die Opposition vor einer „gesellschaftlichen Rückgewandtheit“[2], wenn man bedenkt, dass diese Pauschale als eine „Herdprämie“ für Frauen gelten könnte. Deshalb scheint die Debatte über das Betreuungsgeld zwei unterschiedliche Auffassungen der Erziehung des Kindes und allgemein der Familie herauszukristallisieren. Die eine sieht das Heim als den gemeinrechtlichen Ort der Erziehung und gibt den Eltern die Hauptrolle, während die zweite ein kollektives Erziehen der Kinder fordert. Um die Debatte richtig aufzugreifen, muss man aber den Zusammenhang der Familienpolitik in Deutschland berücksichtigen. 

In Deutschland wird die Familienpolitik besonders von der Demografie beeinflusst. In der Tat werden jedes Jahr weniger Kinder geboren. Laut einer Studie des statistischen Bundesamtes werden im Jahre 2030 voraussichtlich nur noch 77 Millionen Einwohner in Deutschland leben. Dies entspricht einem Rückgang um fast fünf Millionen Personen im Vergleich zur Lage im Jahre 2008[3]. Mehrere Gründe dafür können genannt werden. Erstens ist Deutschland die älteste Bevölkerung Europas und dies führt dazu, dass der Anteil der Frauen in gebärfähigem Alter rückgegangen ist. Auf der materiellen Ebene wird oft die Verschlechterung der sozialen und beruflichen Lage ab der Mitte der 1970er Jahre erwähnt. Außerdem ist die Rede von einem Wertewandel, vor allem bei den gebildeten Frauen, die ihrer Berufskarriere den Vorrang über ihre Familie geben. Des Weiteren erklärt man die schlechte Demografie Deutschlands durch die Pillenknick. Für die Befürworter dieser Theorie ist die Antibabypille für den Abfall der Geburtenrate verantwortlich. 

Die Bestandteile der Familienpolitik versuchen deswegen die Tendenz umzukehren. In Deutschland haben die Eltern Anspruch auf Kindergeld. Es handelt sich um einen Zuschuss, den man bekommen kann, sobald dass man ein Kind kriegt. Dagegen bekommt man die allocation familiale in Frankreich ab dem zweiten Kind. Die allocation familiale funktioniert wie eine Prämie für zahlreiche Familien, während das Kindergeld höher als die französische Pauschale ist und als ein Anreiz für ein-Kind-Familie gilt[4]. Diese zwei Mechanismen sind unabhängig vom Einkommen der Eltern. Die Eltern in Deutschland können wählen zwischen dem Elterngeld und dem Kinderfreibetrag. Dieser Freibetrag begünstigt das klassische Familienmodell denn Verheiratete bekommen einen höheren Freibetrag als alleinerziehende Eltern. 

Deutschlands Familienpolitik fokussiert sich auch auf Elternzeit. Das vorherige Erziehungsgeld wurde 2007 durch das Elterngeld ersetzt. Das Erziehungsgeld wurde scharf kritisiert, weil es den untätigen Muttern zugutekam: Während der Elternzeit durfte der Elternteil, der Erziehungsgeld haben wollte, nur bis zu 30 Stunden Teilzeit erwerbstätig sein. Außerdem wurde die Leistung für zwei Jahre gezahlt. Das neue Elterngeld ist dafür gemacht, dass sich die Eltern besonders im ersten Jahr ihrem Kind widmen können. Das Elterngeld entspricht einer Pauschale von 67% des Nettoerwerbseinkommens (max. 1800 Euro) plus Leistungselement für Geringverdiener. Die Mindestleistung für alle beträgt 300 Euro. Das Ziel des Elterngeldes ist gleichzeitig den Einkommensverlust zu limitieren und die Väter zu involvieren, damit die Frauen nicht die ganze Zeit zu Hause bleiben müssen. Die Leistung wird für ein volles Jahr gezahlt und für 14 Monate, wenn der Vater mindestens 2 Monate Elternzeit beansprucht. 2011 beantragten 25,3% der Väter die sogenannten „Vätermonate“. Die gesamten Kosten des Elterngeldes betragen mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Reform scheint ein neues Familienmodell zu fordern aber sie kommt vor allem den diplomierten Frauen mit gutem Einkommen zugute, weil die Leistung einkommensabhängig ist: je höher der Lohn, desto höher das Elterngeld[5].

Nach 12 Monaten sollen die Eltern normalerweise wieder beruflich tätig sein. Das Problem ist, ein einjähriges Kind ist noch nicht autonom. Deswegen sollen die Eltern entweder eine Tagesmutter oder eine Kindertagesstätte suchen. Da drückt der Schuh. In vielen Bundesländern sind Kitaplätze selten oder es gibt einfach keine sowie im Bayern. Mütter sollen dann trotzdem zwischen Arbeit und Familie wählen, insbesondere diejenigen die sich eine Tagesmutter nicht leisten können. Laut der Opposition sei dann das Betreuungsgeld eine Notlösung[6], die sich mit der familienpolitischen Herausforderung nicht befasst. Dazu kommt noch, dass diese neue Reform den Zielen des Elterngeldes widerspricht. Eine durchdachte Familienpolitik hätte zumindest mehr Kitas ausgebaut und vielleicht sogar Krippen als obligatorisch durch
gesetzt, so die Grünen.

Q.H. 



[1] „Koalition setzt Betreuungsgeld im Bundestag durch“, Stern, 9.11.2012.
[2] „Steinbrück will Betreuungsgeld sofort abschaffen“, Der Spiegel, 9.11.2012.
[3] Demografischer Wandel in Deutschland, „Heft 1: Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern, Ausgabe 2011“, Statistische Ämter des Bundes und der Länder, März 2011.
[4] Mit einem Kind bekommt man 154 Euro pro Monat in Deutschland. Mit zwei Kinder 308 Euro in Deutschland und 119 Euro in Frankreich.
[5] Angela Greulich, « Les politiques familiales en France et en Allemagne. Quelles différences ? Quelles pistes de réforme ? », Horizons stratégiques, n°7, janvier-mars 2008.
[6] Das Betreuungsgeld kommt ursprünglich aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP und gilt als eine Gegenleistung für Abschaffung der Praxisgebühr.